Der 15. Mai 1940 ging als „N-Day“ oder „Nylon-Day“ in die Geschichte ein. Es war der erste offizielle Verkaufstag von in Massenproduktion hergestellten und damit günstigen Nylonstrümpfen in den USA. Wie entfesselt stürmten damals Zehntausende modebewusste Frauen die Kaufhäuser.
Das Objekt ihrer Begierde gab es zwar schon einige Jahre – allerdings zu unerschwinglichen Preisen. Die bis dahin zum Verkauf stehenden zarten Strümpfe konnten sich höchstens Hollywood-Diven leisten.
„An jenem Mittwoch im Mai kam es zu tumultartigen Szenen unter den Frauen. Binnen kürzester Zeit waren alle Bestände restlos ausverkauft“, berichtet Claudia Schmidt. Schon als Kind war die Touristik-Fachwirtin ganz fasziniert von der Strumpftasche ihrer Mutter, in deren diversen Fächern hauchdünne Nylonstrümpfe lagen. „Ich habe sie mir oft angeschaut und berührt. Dabei war ich immer sehr vorsichtig, da mir bewusst war, wie leicht sie Laufmaschen zogen.“
Es war der Balanceakt, der die Frauen schon damals so faszinierte: Einerseits haftete den hauchdünnen Strümpfen, die mit einem Hüfthalter – umgangssprachlich Strapse genannt – am Bein gehalten wurden, etwas Anrüchiges an, andererseits standen sie für Glanz und Glamour. „Mit Nylons verbinde ich die 1950er Jahre – Marilyn Monroe, Marlene Dietrich“, schwelgt Claudia Schmidt in Erinnerungen. „Letztere saß im Film ,Der blaue Engel’ als Tingeltangel-Sängerin Lola auf der Bühne eines Nachtclubs, einen Zylinder schief auf dem Kopf und die Beine in schwarzen Nylons übereinandergeschlagen. Das Bild schrieb Filmgeschichte.“
Ein Hauch aus Kohlenstoff, Luft und Wasser
Die Entwicklung einer zähen Masse mit dem unaussprechlichen Namen Polyhexamethylenadipinamid stieß der US-Amerikaner Wallace Hume Carothers an. Bereits in den 1930er-Jahren schuf der Forschungsleiter des Chemiekonzerns DuPont, ansässig in Wilmington, North Carolina, aus Kohlenstoff, Luft und Wasser einen seidig schimmernden Stoff, der Frauen und Männer gleichermaßen verzückte. Die vollsynthetische Faser war wesentlich feiner als herkömmliche Textilfasern, hatte aber dennoch eine höhere Reißfestigkeit.
„Bis dahin wurden Strümpfe aus teuren und empfindlichen Stoffen wie Seide oder Kunstseide hergestellt“, berichtet Claudia Schmidt. „Die ersten Nylonstrümpfe gab es nur mit Naht. Das lag an der Herstellung – damals hatte man noch keine Maschinen, die nahtlose Strümpfe produzieren konnten.“
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Der Touristik-Fachwirtin gefällt die Naht echter Nylons ganz besonders: „Sie ließ Frauenbeine schlanker und länger erscheinen.“ Neben der Naht hatten Nylonstrümpfe auch ein Abschlussloch im Doppelrand, das beim Zusammennähen entstand. Hier wurden die Strumpfhalter der Mieder befestigt. „Es gab aber auch die halterlose Variante mit erotischem Strumpfband“, erzählt Claudia Schmidt.
Ebenfalls in den 1930er-Jahren entwickelte der deutsche Chemiker Paul Theodor Schlack die Kunstfaser Perlon. Beide – sowohl Carothers als auch Schlack – machten sich bei ihren Erfindungen die Erkenntnisse des späteren Chemie-Nobelpreisträgers Hermann Staudinger zunutze.
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Er hatte in den 1920er-Jahren entdeckt, dass Kunststoffe Makromoleküle sind, die aus kleinen Bausteinen zusammengesetzt werden. Im Sommer 1938 reisten einige DuPont-Direktoren nach Berlin, um das neue Produkt Nylon vorzustellen und Lizenzverhandlungen zu führen. „Die Amerikaner staunten nicht schlecht, als sie die hochwertigen Perlonfäden in Händen hielten“, sagt die Touristik-Fachwirtin.
Wie Nylon Hitlers Kriegsindustrie nutzte
Schlack und Carothers setzten sich an einen Tisch, tauschten ihre Formeln aus und teilten den riesigen Absatzmarkt untereinander auf. „Doch dem Deutschen sollte der Zweite Weltkrieg in die Quere kommen“, berichtet Schmidt weiter. „Hitlers Kriegsindustrie verleibte sich das neue, funktionale Material ein, um daraus Fallschirme und Flugzeugreifen herzustellen. Der Chemiekonzern I.G. Farben in Frankfurt am Main, bei dem Paul Schlack angestellt war, wurde von den Siegermächten wegen der Verstrickungen des Unternehmens mit dem NS-Regime zerschlagen, sodass zunächst an eine Fortsetzung der Perlon-Herstellung nicht zu denken war. Erst vier Jahre nach Kriegsende ging man wieder in Produktion.“
In der Besatzungszeit waren Nylonstrümpfe heiß begehrt: Auf dem Schwarzmarkt wurden sie wie Zigaretten und Schokolade zur Zweitwährung. Doch während das hauchdünne Etwas jenseits des Atlantiks schon längst Massenware war, wurde es hierzulande noch teuer gehandelt.
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In den Westzonen erzielte ein Paar Nylonstrümpfe bis zu 200 Reichsmark, was zum Beispiel dem Monatslohn einer Stenotypistin entsprach. Da konnte eine Laufmasche schnell zum Drama, denn bei solchen Preisen war es kaum vorstellbar, die Nylonstrümpfe einfach zu entsorgen. Folglich gab es Laufmaschendienste, die den teuren Luxusartikel wieder reparierten.
Mitte der 1960er-Jahre beendete der Minirock schließlich die Ära der vielbegehrten Strümpfe: Er war schlichtweg zu kurz. Strümpfe und Strumpfhalter wären allen Blicken freigegeben gewesen. Und so stiegen die meisten Frauen auf Strumpfhosen um, deren Herstellung dank der ebenfalls gerade erfundenen Rundstrickmaschinen möglich war.
https://www.welt.de/wissenschaft/article170457188/Wie-eine-Kunstfaser-Frauenbeine-eroberte.html
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